10.11.2023, 18:36 Uhr

Vom Reh- zum Sündenbock

Einheimischen Huftieren wird unterstellt, sie würden Wald verhindern und müssten daher viel stärker geschossen werden. Dabei werden naturwissenschaftliche Fakten ignoriert, Ursache mit Wirkung vertauscht und Böcke zu Gärtnern gemacht...

Rehe werden auch durch Wanderer in die Flucht geschlagen, weil Jäger sie scheu machen
© Werner Funken
Die nacheiszeitliche Wiederbesiedlung Mitteleuropas erfolgte durch das Reh mindestens 6 000 Jahre früher als durch die Rotbuche. Alle heimischen Waldökosysteme haben sich erst in Co-Evolution u.a. mit der Huftierfauna entwickelt. Und diese war bis zu ihrer weitgehenden Ausrottung im Mittelalter noch diverser: neben Reh und Rothirsch gehörten in NRW Pferd, Wisent, Ur und Elch dazu.

Diese können also nicht Ursache für Konflikte im Wald sein. Ursache der Konflikte ist allein der Mensch mit seinen Nutzungsformen.

Mit Buchenaufforstungen werden für Jahrzehnte naturnahe Waldentwicklung und biologische Vielfalt verhindert
© H. Sticht
Allen voran die Forstwirtschaft: in Aufforstungen, mit welchen Förster seit 200 Jahren Waldökosysteme verhindern, fehlen v.a. wegen der unnatürlich monotonen Altersstruktur Requisiten, die Naturverjüngung in naturnahen Wäldern Vorteile verschafft: umgestürzte Bäume, Lichtungen, auf denen sich bspw. Schlehen entwickeln können, die eine Verbissgegenstrategie und damit „Jugendschutz“ für Bäume bieten. Weil Waldbesitzer diese Fehler nicht korrigieren wollen, brauchen sie einen Sündenbock.

In den Teufelskreis aber treibt uns die Jagd. Maßnahmen der Hege, also die "Pflege" der Huftierbestände, sind da am auffälligsten. V.a. bedingt der durch Jagd erzeugte Stress einen erhöhten Stoffwechsel, der durch eine erhöhte Nahrungsaufnahme ausgeglichen werden muss: je mehr Jagd und je länger die Jagdzeiten, desto mehr Verbiss. Und in NRW ist das ganze Jahr über Jagdzeit. Die künstlich erzeugte hohe Fluchtdistanz bewirkt eine Konzentration der Tiere auf beruhigten Standorten.

Rothirsche fressen als ursprüngliche Offenlandbewohner am liebsten tagsüber Gräser und Kräuter - wenn Jäger sie lassen
© Hanns G. Noppeney
Wo Hirsche am liebsten auf der Wiese grasen würden, werden sie zum Knabbern in dunklen Forst gedrängt. Zudem ist beim Wildschwein wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Fruchtbarkeit durch Jagd erhöht wird. Ähnliche Effekte sind auch bei anderen Paarhuferarten zu vermuten. Seit Jahrzehnten ansteigende Jagdstrecken bei gleichzeitig zunehmenden Konflikten zwischen Forstwirtschaft und Jagd – fälschlicherweise „Wald-Wild-Konflikt“ genannt – sind ein Indiz dafür. Und genau diese Jäger sollen jetzt noch mehr schießen – deutsches „Absurdistan“!

Huftiere fressen oder fegen seit jeher junge Bäume und schaffen dabei Vielfalt, haben dadurch heute in Holzproduzenten erbitterte Konkurrenten
© H. Sticht
Der Wolf ist glücklicherweise zurück. Wie von Untersuchungen aus dem Yellow Stone Nationalpark bekannt bringt er Hirsche überall in Bewegung, sodass sich deren Einfluss weiter verteilt. Bestandsgrößen reguliert er nicht, es funktioniert umgekehrt. Das ist einer der Gründe für die Rückkehr des Wolfs: ausreichend Nahrung. Die Konflikte mit dem Wolf resultieren in erster Linie aus nicht vorhandenem oder mangelhaftem Herdenschutz. Aber wenn seine natürliche Beute unnatürlich reduziert wird, wird der Wolf dazu getrieben, Nutztiere zu erbeuten.

Auch Huftiere werden durch Nahrungsverfügbarkeit reguliert. Diesen begrenzenden Ökofaktor federn wir ab: z.B. durch die Überdüngung der industriellen Landwirtschaft, mit den Stickstoffeinträgen aus Verbrennungsmotoren und Kohlekraftwerken.

Die Waldwende mit möglichst wenig Jagd und Wald statt Forst ist also Teil eines notwendigen gesellschaftlichen Wandels hin zur Nachhaltigkeit, der alle Bereiche unseres Lebens umfasst. Die Suffizienz ist Teil davon.